Sonnenbaden an der Festungsmauer, 1988
Ende Mai scheint die Sonne in Leningrad oft schon
sehr warm. Zufrieden mit dem Tag spaziere ich an
der Peter-und-Pauls-Festung entlang. Während ich an
die Vergangenheit dieses Ortes denke und an die
Menschen, die bereits beim Bau der Festung ihr
Leben lassen mussten, klingt aus einem offenen
Fenster Beethovens Fünfte Symphonie.
Ich reiße mich aus meinem Film und gehe zum
Newa-Ufer. Hier, zwischen der Mauer und dem Fluss,
liegt, wie mir scheint, der begehrteste Sonnenplatz
der Stadt. Dicht gedrängt sonnen sich Hunderte von
Menschen, die meisten tun dies im Stehen. Es ist
eine überaus heitere Szene, und ich versuche, diese
Stimmung in Bildern fest zu halten. Aber dann bin
ich plötzlich verwirrt. Wie überall in Leningrad zwingt
sich wieder Geschichte in meinen Kopf, und aus dem
Anblick der gemütlichen Freizeit entwickeln sich
Bilder von Terror und Gewalt.
Halt - Hände hoch - Mit dem Gesicht zur Wand -
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Zwei Jahrhunderte lang war die Peter-und-Pauls-
Festung bis 1917 vor allem ein politisches Gefängnis.
Hinter ihren vier Meter dicken Mauern wurden
Revolutionäre verurteilt, Todesurteile wurden
vollstreckt. Hier tötete man Lenins älteren Bruder,
und eine Frau wie Vera Figner saß hier in der
Einzelzelle...
Unzählbar sind auch heute noch die Mauern, Wände,
Zäune oder Wälle, vor denen Menschen durchsucht
werden, abgeführt oder gar getötet. Von der Polizei,
vom Militär, von Todesschwadronen. Demonstranten
in Deutschland, Bauern in El Salvador, Arbeiter in
Südafrika... Mit erhobenen Händen und dem Gesicht
zur Wand sind sie schutzlos jeder Willkür ausge-
liefert. Im Nacken spüren sie nicht die Wärme des
Sonnenscheins, sondern es brennt ihnen die Angst.
Halt - Hände hoch - Mit dem Gesicht zur Wand -
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Nein, Erschießungen finden innerhalb der Festung
nicht mehr statt. Der Alltag in Leningrad ist auch
nicht mehr von Terror bestimmt. Es liegt vielmehr
eine große Hoffnung über der Stadt.
Halt - Hände hoch - Mit dem Gesicht zur Wand -
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Hoffnung war 1988. Doch heute, 20 Jahre danach, ist
in Sankt Petersburg die große Hoffnung nicht mehr
zu spüren. Gewalt, und die Armut vieler Menschen
bestimmen das Leben, und das Erschießen findet an
unzähligen anderen Orten statt.
Halt - Hände hoch - Mit dem Gesicht zur Wand -
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